10 Gedichte über Gott und die Welt

 

Zeit

der Wunsch nach Zeit
ist Wunsch nach Leben

Hoffen auf ein erfülltes, vitales Leben
derhalb erfordert Zeit, kreative Aufmerksamkeit.

möglicherweise stellen wir fest,
dass Zeit tatsächlich ist wie Thymian

voller Aroma, pur und nahrhaft
ein Würz-, aber auch Grundnahrungsmittel

ein wachsendes Gebilde,
das gepflanzt, gehegt und geerntet werden muß.

(nach Thomas More, 1478-1535)

 

Annäherung an die Wirklichkeit

nicht durchblicken
sondern anblicken

nicht im griff haben
vielmehr ergriffen sein

nicht bloß verstehen
auch zu dir stehen

nicht durchschauen
einfach nur anschauen

so werden wir wirklich
wir

(aus: Gedichte über alles hinaus von Andreas Knapp)

 

 

In der Himmelweite des Betens

die Gravitation der Egozentrik
überwinden und schweben
in der Schwerelosigkeit des Schweigens

keine Nabelschau und kein Narziss
der entspiegelte See gibt den Blick frei
in geheimnisblaue Tiefen

ruhen in jenem Grund
der selbst den Abgründen noch
zu Grunde liegt

das endlose Kreisen um sich selber
wird aufgebrochen
zum Unendlichen hin

im Verstummen des Ich
erwacht das Ohr
für der Liebe Du

(aus: "Weiter als der Horizont", Gedichte von Andreas Knapp)

 

 

Sehnsuchtslied

Leise schlägst in deinem Lied du einen Ton an -
und dir ist, als fehlte noch etwas.
Und du suchst verwirrt bei allen Tönen,
ob sie dir nicht sagen können,
wo's zu finden, wo und wie und wann...
Doch der eine ist zu blaß
und zu lüstern ist der zweite,
und der dritte ist so voll mit Weite -
viel zu voll.

Du suchst lange - Moll und Dur und Moll
werden lebend unter deinen Händen.
Und dann schlägst du plötzlich eine Taste an,
und - es kommt kein Ton.
Und das Schweigen ist dir wie ein dumpfer Hohn,
denn du weißt es plötzlich ganz genau:
Dieser fehlt dir. Wenn ihn deine Hände fänden,
fiele ab von deinem Lied der Bann,
wär' das Ende nicht mehr leer und grau.

Und du rührst und rührst die Taste -
fragst dich, wo hier wohl die Hemmung liegt,
suchst, ob nicht doch deiner Hände Weiche siegt,
deine Augen betteln voll verlangen.
Kein Ton kommt. Einsamkeit bleibt nun zu Gaste
in dem Lied, das dir so schwer und süß gereift.

Um den ungespielten Ton wirst du nun ewig bangen,
bangen um das Glück, das dich nur leicht gestreift
in den leisen Nächten, wenn der Mond dich wiegt
und die Stille deine Tränen nicht begreift.

(Selma Meerbaum-Eisinger, 1924-1943)

 

 

Tod oder lebendig

ist das leben
ein aggregatzustand des todes

ist der tod
der ungezeugte zwillingsbruder des lebens

ist das leben
der ausnahmezustand des todes

ist der tod
die quintessenz des lebens

ist das leben
die schillernde maske des todes

ist der tod
der umkehrschluss des lebens

ist das leben
ein selbstversuch der toten materie

ist der tod
der parasympathikus des lebens

ist das leben
der tod des todes

(aus: Naturgedichte von Andreas Knapp)

 

auferstehung

du
mein leben

wir haben uns
doch einmal
so geliebt
warum willst du
mich verlassen
lass uns noch einmal
von vorn beginnen
ganz von vorn

und dann
für immer

(aus: Biblische Gedichte von Andreas Knapp)

 

Ich stell mich

erfüllt
berührt
bewegt

hinstehen
einstehen
aufstehen

ruhe und antrieb
ruf und aufbruch
rede und antwort

mit ganzem herzen
mit ganzer seele
mit ganzer kraft

(Andrea Schwarz, nach Dtn 6,6)

 

Von der Sehnsucht

Es sprechen Manche: sie hätten's nicht.
Da erwidere ich: das ist mir leid.
Ersehnst du es aber auch nicht,
das ist mir noch leider.
Könnt ihr es denn nicht haben,
so habt wenigstens ein Sehnen danach!
Mag man auch das Sehnen nicht haben,
so sehne man sich doch wenigstens nach der Sehnsucht!

(Meister Eckart, 1260-1327, deutscher Mystiker und Provinzial der Dominikaner)

 

Gott ist ganz anders

vergiß
alle Eigenschaftswörter

verbrenn
alle Bilder

schreib ihn
nicht fest

trau
keinem Namen

feilsche
nicht

rechne nicht
mit dem Berechenbaren

nimm Abschied von deinen Erwartungen
und laß dich überraschen

gib deiner Sehnsucht Raum
aber fessele ihn nicht

alle Versuche dir deinen Hausgott
zu basteln sind vergebens

Gott ist
ganz anders

aber er sucht dich
wenn du dich finden läßt

er findet dich
wenn du ihn suchst

(Andrea Schwarz, u.a. nach Mt 7,7)

 

Wonnemonat

es ist heut der 1. Mai

wie ein Meer des Lebens
ergießt sich der in die Erde
der weiße Blütenschaum
bleibt an den Bäumen hängen

es ist ein schöner Tag


"Im wunderschönen Monat Mai
Als alle Knospen sprangen,
Da ist in meinem Herzen
Die Liebe aufgegangen.

Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Vögel sangen,
Da hab ich ihr gestanden
Mein Sehnen und Verlangen.”

(Heinrich Heine, 1797-1856)

 

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